Der unter anderem für das Urheberrecht zuständige I. Zivilsenat des
Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland
die Veröffentlichung militärischer Lageberichte über den
Afghanistaneinsatz der Bundeswehr durch die Presse nicht unter Berufung
auf das Urheberrecht untersagen kann.
Sachverhalt:
Die Klägerin ist die Bundesrepublik Deutschland, die im vorliegenden
Verfahren durch das Bundesministerium der Verteidigung vertreten wird.
Dieses lässt wöchentlich einen militärischen Lagebericht über die
Auslandseinsätze der Bundeswehr und Entwicklungen im Einsatzgebiet
erstellen. Die Berichte werden unter der Bezeichnung „Unterrichtung des
Parlaments“ (UdP) an ausgewählte Abgeordnete des deutschen Bundestages,
Referate im Bundesministerium der Verteidigung und anderen
Bundesministerien, sowie dem Bundesministerium der Verteidigung
nachgeordneten Dienststellen versendet. Sie sind als Verschlusssache „VS
– Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft. Daneben veröffentlicht die
Klägerin gekürzte Fassungen der UdP als „Unterrichtung der
Öffentlichkeit“ (UdÖ).
Die Beklagte betreibt das Onlineportal der Westdeutschen Allgemeinen
Zeitung. Sie beantragte im Jahr 2012 unter Berufung auf das
Informationsfreiheitsgesetz die Einsichtnahme in sämtliche UdP aus der
Zeit zwischen dem 1. September 2001 und dem 26. September 2012. Nach
Ablehnung dieses Antrags gelangte die Beklagte auf unbekanntem Weg an
einen Großteil der Berichte und veröffentlichte diese unter der
Bezeichnung „Afghanistan-Papiere“ im Internet. Die Klägerin hat die
Beklagte auf Unterlassung in Anspruch genommen, weil die
Veröffentlichung ihr Urheberrecht an den Berichten verletze.
Bisheriger Prozessverlauf:
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der
Beklagten ist ohne Erfolg geblieben. Mit ihrer Revision hat die Beklagte
ihren Klageabweisungsantrag weiterverfolgt. Der Bundesgerichtshof hat
das Verfahren mit Beschluss vom 1. Juni 2017 ausgesetzt und dem
Gerichtshof der Europäischen Union verschiedene Fragen zur
Vorabentscheidung vorgelegt (I ZR 139/15, GRUR 2017, 901 – Afghanistan
Papiere I; dazu Pressemitteilung Nr. 87/17 vom 1. Juni 2017). Der
Gerichtshof der Europäischen Union hat über diese Fragen durch Urteil
vom 29. Juli 2019 (C-469/17, GRUR 2019, 934 – Funke Medien) entschieden.
Der Bundesgerichtshof hat daraufhin das Revisionsverfahren fortgesetzt.
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Der Bundesgerichtshof hat das Berufungsurteil aufgehoben und die
Klage abgewiesen. Es kann offenbleiben, ob die UdP urheberrechtlich als
Schriftwerke geschützt sind. Die Beklagte hat durch die Veröffentlichung
der UdP jedenfalls ein daran bestehendes Urheberrecht nicht
widerrechtlich verletzt. Zu ihren Gunsten greift vielmehr die
Schutzschranke der Berichterstattung über Tagesereignisse (§ 50 UrhG)
ein.
Eine Berichterstattung im Sinne dieser Bestimmung liegt vor. Das
Berufungsgericht hat bei seiner abweichenden Annahme, es habe keine
journalistische Auseinandersetzung mit den einzelnen Inhalten der
jeweiligen UdP stattgefunden, nicht hinreichend berücksichtigt, dass die
Beklagte die UdP nicht nur auf ihrer Website veröffentlicht, sondern
sie auch mit einem Einleitungstext, weiterführenden Links und einer
Einladung zur interaktiven Partizipation versehen und in
systematisierter Form präsentiert hat.
Die Berichterstattung hat auch ein Tagesereignis zum Gegenstand. Sie
betrifft die Frage, ob die jahrelange und andauernde öffentliche
Darstellung des auch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Texte auf
der Internetseite der Beklagten noch stattfindenden und damit aktuellen,
im Auftrag des deutschen Bundestages erfolgenden Einsatzes der
deutschen Soldaten in Afghanistan als Friedensmission zutrifft oder ob
in diesem Einsatz entgegen der öffentlichen Darstellung eine Beteiligung
an einem Krieg zu sehen ist.
Die Berichterstattung hat zudem nicht den durch den Zweck gebotenen
Umfang überschritten. Nach der Bestimmung des Art. 5 Abs. 3 Buchst. c
Fall 2 der Richtlinie 2001/29/EG, deren Umsetzung § 50 UrhG dient und
die bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung zu beachten ist,
darf die fragliche Nutzung des Werks nur erfolgen, wenn die
Berichterstattung über Tagesereignisse verhältnismäßig ist, das heißt
mit Blick auf den Zweck der Schutzschranke, der Achtung der
Grundfreiheiten des Rechts auf Meinungsfreiheit und auf Pressefreiheit,
den Anforderungen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit
(Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) entspricht.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt es für
die Frage, ob bei der Auslegung und Anwendung unionsrechtlich bestimmten
innerstaatlichen Rechts die Grundrechte des Grundgesetzes oder die
Grundrechte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union maßgeblich
sind, grundsätzlich darauf an, ob dieses Recht unionsrechtlich
vollständig vereinheitlicht ist (dann sind in aller Regel nicht die
Grundrechte des Grundgesetzes, sondern allein die Unionsgrundrechte
maßgeblich) oder ob dieses Recht unionsrechtlich nicht vollständig
determiniert ist (dann gilt primär der Maßstab der Grundrechte des
Grundgesetzes). Im letztgenannten Fall greift die Vermutung, dass das
Schutzniveau der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch die
Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitgewährleistet ist (vgl.
BVerfG, Beschluss vom 6. November 2019 – 1 BvR 16/13, GRUR 2020, 74 Rn.
71 – Recht auf Vergessen I). Da nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs
der Europäischen Union Art. 5 Abs. 3 Buchst. c Fall 2 der Richtlinie
2001/29/EG dahin auszulegen ist, dass er keine Maßnahme zur
vollständigen Harmonisierung der Reichweite der in ihm aufgeführten
Ausnahmen oder Beschränkungen darstellt, ist die
Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Anwendung des § 50 UrhG danach
anhand des Maßstabs der Grundrechte des deutschen Grundgesetzes
vorzunehmen.
Im Blick auf die Interessen der Klägerin ist zu berücksichtigen, dass
die durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten ausschließlichen
Verwertungsrechte zur Vervielfältigung und zur öffentlichen
Zugänglichmachung der UdP allenfalls unwesentlich betroffen sind, weil
die UdP nicht wirtschaftlich verwertbar sind. Das vom
Urheberpersönlichkeitsrecht geschützte Interesse an einer Geheimhaltung
des Inhalts des Werks erlangt im Rahmen der im Streitfall vorzunehmenden
Grundrechtsabwägung kein entscheidendes Gewicht. Das
Urheberpersönlichkeitsrecht schützt nicht das Interesse an der
Geheimhaltung von Umständen, deren Offenlegung Nachteile für die
staatlichen Interessen der Klägerin haben könnte. Dieses Interesse ist
durch andere Vorschriften etwa das Sicherheitsüberprüfungsgesetz, § 3
Nr. 1 Buchst. b IFG oder die strafrechtlichen Bestimmungen gegen
Landesverrat und die Gefährdung der äußeren Sicherheit gemäß § 93 ff.
StGB – geschützt. Das Urheberpersönlichkeitsrecht schützt allein das
urheberrechtsspezifische Interesse des Urhebers, darüber zu bestimmen,
ob er mit der erstmaligen Veröffentlichung seines Werkes den Schritt von
der Privatsphäre in die Öffentlichkeit tut und sich und sein Werk damit
der öffentlichen Kenntnisnahme und Kritik aussetzt. Dieses
Geheimhaltungsinteresse kann nach den Umständen des Streitfalls das
durch die Meinungs- und Pressefreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2
GG geschützte Veröffentlichungsinteresse nicht überwiegen. Dem Interesse
an einer Veröffentlichung der hier in Rede stehenden Informationen
kommt im Blick auf die politische Auseinandersetzung über die
Beteiligung deutscher Soldaten an einem Auslandseinsatz und das damit
berührte besonders erhebliche allgemeine Interesse an der öffentlichen
und parlamentarischen Kontrolle von staatlichen Entscheidungen in diesem
Bereich größeres Gewicht zu.
Vorinstanzen:
LG Köln – Urteil vom 2. Oktober 2014 – 14 O 333/13
OLG Köln – Urteil vom 12. Juni 2015 – 6 U 5/15)
Die maßgebliche Vorschrift lautet:
§ 50 UrhG
Zur Berichterstattung über Tagesereignisse durch Funk oder durch
ähnliche technische Mittel, in Zeitungen, Zeitschriften und in anderen
Druckschriften oder sonstigen Datenträgern, die im Wesentlichen
Tagesinteressen Rechnung tragen, sowie im Film, ist die
Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Wiedergabe von Werken, die
im Verlauf dieser Ereignisse wahrnehmbar werden, in einem durch den
Zweck gebotenen Umfang zulässig.
Quelle: Pressemitteilung des BGH vom 30. April 2020