Aus dem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit
folgt, dass ein Gericht im Presse- und Äußerungsrecht grundsätzlich vor
einer stattgebenden Entscheidung über den Antrag einer Partei der
Gegenseite Recht auf Gehör gewähren muss. Auch wenn Pressesachen häufig
eilig sind, folgt hieraus kein schutzwürdiges Interesse daran, dass die
Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs oder eines
Gegendarstellungsrechts dem Antragsgegner verborgen bleibt. Regelmäßig
besteht kein Grund, von seiner Anhörung vor dem Erlass einer
einstweiligen Verfügung abzusehen. Mit dieser Begründung hat die 3.
Kammer des Ersten Senats mit heute veröffentlichten Beschlüssen zwei
Verfassungsbeschwerden wegen Verstoßes gegen Artikel 3 Abs. 1 in
Verbindung mit Artikel 20 Abs. 3 GG stattgegeben und dabei klargestellt,
dass es verfassungsrechtlich geboten ist, den Antragsgegner vor Erlass
einer gerichtlichen Entscheidung in den gleichen Kenntnisstand zu
versetzen wie den Antragsteller. Insbesondere dürfen richterliche
Hinweise nicht einseitig ergehen und müssen daher auch der Gegenseite
unverzüglich gegeben werden.
Sachverhalt:
1. Die Verfassungsbeschwerde im Verfahren 1 BvR
1783/17 betrifft eine Entscheidung des Landgerichts Köln, in der der
Beschwerdeführerin die Unterlassung von Äußerungen aufgegeben wurde,
ohne dass sie zuvor vorprozessual abgemahnt oder im gerichtlichen
Verfahren angehört worden war. Die Beschwerdeführerin ist ein
journalistisches Recherchenetzwerk und veröffentlichte auf ihrer
Internetseite einen Artikel über den Verlauf einer Aufsichtsratsitzung
eines Unternehmens, welche Korruptionsvorwürfe zum Inhalt hatte. Dieses
Unternehmen beantragte beim Landgericht Köln den Erlass einer
einstweilen Verfügung mit dem Inhalt, der Beschwerdeführerin aufzugeben,
die Veröffentlichung der Protokolle ihrer Aufsichtsratssitzung zu
unterlassen. Dem Antrag, von dem die Beschwerdeführerin zunächst nichts
erfuhr, war keine Abmahnung der Beschwerdeführerin vorausgegangen. Das
Landgericht Köln erließ die einstweilige Verfügung, ohne sie zu
begründen oder die Beschwerdeführerin vorher anzuhören. Von dem Inhalt
des Verfügungsantrags und seiner Begründung erhielt die
Beschwerdeführerin erst nach Zustellung und Akteneinsicht Kenntnis.
2. Die Verfassungsbeschwerde 1 BvR 2421/17 betrifft
eine Entscheidung, mit der die Beschwerdeführerin, ein Presseverlag,
zum Abdruck einer Gegendarstellung verpflichtet wurde, ohne dass über
die Sache mündlich verhandelt oder ihr durch das Gericht Gehör gewährt
wurde. Im Mai 2017 veröffentlichte ein von der Beschwerdeführerin
herausgegebenes Magazin einen Artikel über einen Fernsehmoderator,
inwieweit dieser als Eigentümer und Vermieter einer Yacht ein
Steuersparmodell nutzt. Der Moderator (im Folgenden Antragsteller)
machte daraufhin gegenüber der Beschwerdeführerin im Eilverfahren
Gegendarstellungsansprüche geltend. Die Pressekammer des Landgerichts
Hamburg wies seine Anträge zurück. Die Beschwerdeführerin wusste weder
von den Verfügungsanträgen noch wurden ihr die Zurückweisungen
mitgeteilt. Auf den vierten Antrag des Antragstellers erging im
Beschwerdeverfahren am 5. Oktober 2017 dann ein Beschluss des
Oberlandesgerichts, mit dem die Beschwerdeführerin zum Abdruck einer
Gegendarstellung verpflichtet wurde. Dabei wurden dem Antragsteller
wiederholt telefonisch rechtliche Hinweise erteilt, die der
Beschwerdeführerin nicht zur Kenntnis gebracht wurden. Die
Beschwerdeführerin erfuhr mit der Zustellung des Beschlusses erstmals
von dem gegen sie angestrengten Gerichtsverfahren.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
1. a) Aus dem Grundsatz der prozessualen
Waffengleichheit – der verfassungsrechtlich gewährleisteten
Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter –
folgt, dass ein Gericht im Presse- und Äußerungsrecht der Gegenseite
vor einer stattgebenden Entscheidung über den Antrag einer Partei im
Zivilrechtsstreit Recht auf Gehör gewähren muss. Auch wenn in
Pressesachen häufig eine Eilbedürftigkeit anzuerkennen sein wird, folgt
hieraus kein schutzwürdiges Interesse daran, dass die Geltendmachung des
Unterlassungsanspruchs als solche der Gegenseite verborgen bleibt.
Ebenso wenig gilt dies im Gegendarstellungsrecht. Jedenfalls in den
Fällen, in denen es um eine bereits veröffentlichte Äußerung geht,
besteht regelmäßig kein Grund, von einer Anhörung und
Äußerungsmöglichkeit eines Antragsgegners vor dem Erlass einer
einstweiligen Verfügung abzusehen.
b) Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, in
welchen Fällen über den Erlass einer einstweiligen Verfügung ohne
mündliche Verhandlung entschieden werden kann. Für die Beurteilung, wann
ein dringender Fall im Sinne des § 937 Abs. 2 ZPO vorliegt und damit
auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werden kann, haben die
Fachgerichte einen weiten Wertungsrahmen. Insbesondere dürfen sie davon
ausgehen, dass das Presserecht von dem Erfordernis einer schnellen
Reaktion geprägt ist, wenn es darum geht, gegen eine Berichterstattung
vorzugehen. Dies gilt vor allem im Gegendarstellungsrecht, für welches
das Bundesverfassungsgericht stets betont hat, dass es von einer
grundsätzlichen Eilbedürftigkeit gekennzeichnet ist. Angesichts der
durch das Internet ständig aktualisierten Online-Angebote und die
sozialen Medien beschleunigten Möglichkeiten der Weiterverbreitung von
Informationen kann es im Interesse effektiven Rechtsschutzes sogar
geboten sein, Unterlassungs- ebenso wie Gegendarstellungsansprüchen in
unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Berichterstattung zur Geltung zu
verhelfen.
Die Annahme einer Dringlichkeit setzt sowohl
seitens des Antragstellers als auch seitens des Gerichts eine zügige
Verfahrensführung voraus. Der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung
ist nach der Entscheidung des Gesetzgebers nur in dem Maße
gerechtfertigt, wie die Dringlichkeit es gebietet. Wenn sich im Verlauf
des Verfahrens zeigt, dass eine unverzügliche Entscheidung nicht zeitnah
ergehen muss oder kann, hat das Gericht Veranlassung, die Frage der
Dringlichkeit erneut zu überdenken und gegebenenfalls eine mündliche
Verhandlung anzuberaumen und auf ihrer Grundlage zu entscheiden.
c) Über eine einstweilige Verfügung gegen
Veröffentlichungen der Presse oder über den Abdruck einer
Gegendarstellung wird deshalb nicht selten zunächst ohne mündliche
Verhandlung entschieden werden müssen. Der Verzicht auf eine mündliche
Verhandlung berechtigt demgegenüber aber nicht ohne weiteres dazu, die
Gegenseite bis zur Entscheidung über den Verfügungsantrag ganz aus dem
Verfahren herauszuhalten. Nach dem Grundsatz der prozessualen
Waffengleichheit kommt eine stattgebende Entscheidung über den
Verfügungsantrag vielmehr grundsätzlich nur in Betracht, wenn die
Gegenseite zuvor die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag geltend
gemachte Vorbringen zu erwidern. Dabei kann nach Art und Zeitpunkt der
Gehörsgewährung differenziert und auf die Umstände des Einzelfalls
abgestellt werden.
Danach ist es verfassungsrechtlich unbedenklich,
wenn das Gericht in solchen Eilverfahren gegen Medienunternehmen auch
vorprozessuale Möglichkeiten einbezieht, die es ihnen erlauben, sich zu
dem Verfügungsantrag zu äußern. Hierfür kann auf die Möglichkeit zur
Erwiderung gegenüber einer dem Verfügungsverfahren vorangehenden
Abmahnung abgestellt werden.
Dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der
prozessualen Waffengleichheit genügen solche vorprozessuale
Erwiderungsmöglichkeiten allerdings nur dann, wenn sichergestellt ist,
dass die Erwiderungen dem Gericht vorliegen. Der Verfügungsantrag
hinsichtlich eines Unterlassungsbegehrens muss dafür in Anschluss an die
Abmahnung unverzüglich nach Ablauf einer angemessenen Frist für die
begehrte Unterlassungserklärung bei Gericht eingereicht werden, die
abgemahnte Äußerung sowie die Begründung für die begehrte Unterlassung
müssen mit dem bei Gericht geltend gemachten Unterlassungsbegehren
identisch sein und der Antragsteller muss ein etwaiges
Zurückweisungsschreiben des Antragsgegners zusammen mit seiner
Antragsschrift bei Gericht einreichen. Im Gegendarstellungsrecht müssen
sowohl das Abdruckverlangen als auch die Begründung für die begehrte
Gegendarstellung identisch sein und muss der Antragsteller ein etwaiges
Zurückweisungsschreiben des Antragsgegners zusammen mit seiner
Antragsschrift bei Gericht eingereicht haben. Nur dann ist
sichergestellt, dass der Antragsgegner hinreichend Gelegenheit hatte,
sich zu dem Vorbringen des Antragstellers in gebotenem Umfang zu äußern.
Demgegenüber ist dem Antragsgegner prozessuales
Gehör zu gewähren, wenn er nicht in der gehörigen Form abgemahnt wurde
beziehungsweise wenn ihm das Abdruckverlangen nicht in der gehörigen
Form zugeleitet wurde oder der Antrag vor Gericht in anderer Weise oder
mit ergänzendem Vortrag begründet wird als in der Abmahnung
beziehungsweise dem Abdruckverlangen. Gehör ist auch zu gewähren, wenn
das Gericht dem Antragsteller Hinweise nach § 139 ZPO erteilt, von denen
die Gegenseite nicht oder erst nach Erlass einer für sie nachteiligen
Entscheidung erfährt. Alle Hinweise müssen, insbesondere sofern sie
mündlich erteilt werden, vollständig dokumentiert werden, so dass sich
nachvollziehbar aus den Akten ergibt, wer wann wem gegenüber welchen
Hinweis gegeben hat. Entsprechend ist es verfassungsrechtlich geboten,
den jeweiligen Gegner vor Erlass einer Entscheidung in den gleichen
Kenntnisstand zu versetzen wie den Antragsteller, indem auch ihm die
richterlichen Hinweise zeitnah mitgeteilt werden. Dies gilt
insbesondere, wenn Rechtsauskünfte darauf zielen, einen Antrag
nachzubessern, oder eine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten oder dem
Vorliegen der Dringlichkeit nach § 937 Abs. 2 ZPO abgeben. Soweit
Hinweise erteilt werden, ist der Gegenseite dies auch im Falle der
Ablehnung eines Antrags unverzüglich mitzuteilen.
2. Diesen Grundsätzen genügen die angegriffenen Beschlüsse nicht.
a) Das Landgericht Köln hat über den Antrag auf
einstweilige Verfügung nicht nur ohne mündliche Verhandlung entschieden,
sondern auch ohne eine vorherige ordnungsgemäße Abmahnung durch die
Antragstellerin und ohne eine Anhörung der Beschwerdeführerin im
Verfahren. Dadurch hatte die Beschwerdeführerin, die von dem gegen sie
gerichteten Verfahren keine Kenntnis hatte, keine Möglichkeit, vor der
Entscheidung des Gerichts ihre Sicht der Dinge darzulegen. Es ist auch
in keiner Weise ersichtlich, dass eine Überraschungsentscheidung
erforderlich gewesen wäre, um das Rechtsschutzziel nicht zu gefährden.
b) Dass das Oberlandesgericht der
Beschwerdeführerin keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat, ist
jedenfalls insoweit verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen, als das
Gericht dem Antrag auf Erlass der beantragten Verfügung auf Abdruck
einer Gegendarstellung stattgab, ohne das vorprozessuale
Erwiderungsschreiben der Beschwerdeführerin zu berücksichtigen, dass ein
Gegendarstellungsanspruch unberechtigt sei. Dies gilt erst recht für
einen Verfahrensablauf, bei dem die Beschwerdeführerin in einem über
vier Monate währenden Verfahren mit mehreren Anträgen zu keinem
Zeitpunkt die Möglichkeit hatte, sich überhaupt zu äußern.
Auch einseitig erteilte Hinweise haben die prozessuale Waffengleichheit verletzt. Es ist nach dem Akteninhalt belegt, dass der Antragsteller nach einem Telefonat mit einem Richter seinen ersten Gegendarstellungsantrag zurücknahm, anschließend anpasste und nach erneuter Zurückweisung durch die Beschwerdeführerin einen weiteren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung beim Landgericht stellte. In dem Schriftsatz teilte er der Pressekammer dazu die von ihm in Erfahrung gebrachte Rechtsauffassung des Pressesenats mit. Es ist schon zweifelhaft, ob solche Hinweise überhaupt mit dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit vereinbar sind. Jedenfalls aber verstößt es gegen diesen Grundsatz, dass diese der Beschwerdeführerin nicht unverzüglich mitgeteilt wurden und nicht erkennbar ist, was mit dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers besprochen wurde. Aktenvermerke wie „Bedenken erörtert“ genügen den Dokumentations-anforderungen nicht.
Quelle: Pressemitteilung Nr. 78/2018 des BVerfG vom 26. Oktober 2018 zu den Verfahren 1 BvR 1783/17 und 1 BvR 2421/17